Direkt zu den Inhalten springen

Stellungnahme Referentenentwurf Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG

Behinderung

Stellungnahme des SoVD zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Entwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG)

1 Ziel und Gesamtbewertung des Referentenentwurfs

Die Kinder- und Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beitragen (vgl. § 1 Absatz 1 SGB VIII). Als Sozialleistungssystem ist sie damit für ein „gedeihliches“ Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verantwortlich.

Im Ampel-Koalitionsvertrag haben sich die Koalitionsparteien darauf verständigt, notwendige Anpassungen zur Umsetzung der inklusiven Jugendhilfe im SGB VIII in einem Beteiligungsprozess mit Ländern, Kommunen und Verbänden zu erarbeiten und in dieser Legislaturperiode gesetzlich zu regeln und fortlaufend zu evaluieren.

In Umsetzung dieser Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) den breiten Beteiligungsprozess „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe!“ von Juni 2022 bis Dezember 2023 durchgeführt. Der SoVD hat den Prozess unterstützt und bewertet den Partizipationsprozess im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention daher positiv.

Bisher war die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung Teil des SGB VIII, während die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit körperlicher, geistiger und Sinnesbeeinträchtigung im SGB IX geregelt war.

Mit dem geplanten inklusiven Kinder- und Jugendhilfegesetz (IKJHG) soll nun die Zuständigkeit für alle Arten der Behinderungen im Kindes- und Jugendalter in der Kinder- und Jugendhilfe gebündelt werden. Dies soll eine ganzheitliche Betreuung ermöglichen und verhindern, dass Kinder und Jugendliche aufgrund von Zuständigkeitsfragen zwischen verschiedenen Systemen hin- und hergeschoben werden.

Der SoVD begrüßt außerordentlich die mit dem vorliegenden Referentenentwurf verbundene Zielstellung einer Zusammenführung der Zuständigkeiten der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII. Ein Leistungsangebot für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, das sich primär an der Lebenslage „Kindheit und Jugend“ orientiert, entspricht dem Inklusionsgedanken der UN-BRK und ist nach Ansicht des SoVD lange überfällig. Bislang gewährt das SGB VIII jedoch nur Kindern mit seelischen Behinderungen Unterstützungsleistungen. Alle jungen Menschen sind zunächst einmal Kinder oder Jugendliche und haben erst in zweiter Linie eine Einschränkung. Für den SoVD müssen alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe künftig inklusiv ausgestaltet werden.

Es ist wichtig, dass es bei der Umstellung zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu keinen Leistungsabbrüchen kommt. Es darf weder zu einer Leistungsverschlechterung für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger (drohender) Behinderung kommen, noch zu Ausweitungen der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern behinderter Kinder.

2 Zu einzelnen Regelungen

Im Folgenden nimmt der SoVD zu einzelnen Regelungen im Referentenentwurf Stellung:

a) Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe (§ 27 SGB VIII neu)

Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung und der Anspruch auf Leistungen zur Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche werden zu einem „Dachleistungstatbestand“ in § 27 SGB VIII neu zusammengefasst. Besteht ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung sowie auf Eingliederungshilfe, sind diese Leistungen miteinander kombinierbar.

SoVD-Bewertung: Wir finden, dies entspricht dem wesentlichen Ziel einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Sichergestellt sein muss aber, dass Eingliederungshilfemaßnahmen / Maßnahmen zur Teilhabe gleichberechtigt neben den Hilfen zur Erziehung stehen. Nur so wird man dem Anspruch einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe gerecht. Teilhabe für junge Menschen mit Behinderungen ist mehr als nur die Hilfen zur Erziehung.

Teilhabe für diese jungen Menschen mit Behinderungen darf nicht nur unter dem Aspekt der Entwicklung und Erziehung gesehen werden. § 27 SGB VIII spricht explizit von „Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe“. Dieser Gleichklang darf nicht zur Einschränkung der Teilhabeaspekte für junge Menschen mit Behinderungen führen. Vielmehr ist hier an § 90 SGB IX anzuknüpfen, welcher die Aufgaben der Eingliederungshilfe beschreibt (medizinische Rehabilitation, Teilhabe an Bildung u.a.).

§ 27 Absatz 3a konkretisiert die Tatbestandsvoraussetzung der Eignung und Notwendigkeit des Absatzes 3 und greift damit den Begriff der Wesentlichkeit des § 99 Absatz 1 SGB IX inhaltlich auf.

SoVD-Bewertung: Wir begrüßen ausdrücklich, dass im Gesetzestext des vorliegenden Referentenentwurfes auf das Kriterium der Wesentlichkeit der Behinderung als Zugangsvoraussetzung für Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe verzichtet wurde. Eine solche Bezugnahme auf die Wesentlichkeit findet sich in der Begründung des vorliegenden Referentenentwurfes. Dies lehnt der SoVD ab. Eine Bezugnahme auf die Wesentlichkeit führt zu einer Einschränkung des Zugangs zu den Leistungen der Eingliederungshilfe. Vielmehr muss an die Zugangsvoraussetzungen des § 99 SGB IX angeknüpft werden.

b) Offener Leistungskatalog (§ 27a SGB VIII neu, bzw. § 35a SGB VIII neu)

Leistungsarten bei der Hilfe- und Leistungsplanung können kombiniert werden und der Leistungskatalog ist offen (§ 27a SGB VIII neu und 35a SGB VIII neu).

SoVD-Bewertung: Wir finden es wichtig, dass für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen die gleichen Grundsätze bei der Leistungsgewährung gelten. Spezifische Bedarfe bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen müssen aber berücksichtigt werden. Bei einer Zusammenführung der Leistungen sieht der SoVD die Gefahr, dass die spezifischen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen unter den Tisch fallen. Gerade, weil die Verfahrenslotsen, die die Unterstützung für die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen übernehmen sollen, muss zwingend beachtet werden, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen etwaige Rehabilitationsträger mit einzubeziehen sind.

Die Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe dürfen keinesfalls zu Leistungsverkürzungen führen. Daher erscheint es aus Sicht des SoVD als elementar wichtig, dass die Hilfe- und Leistungsplanung einer regelmäßigen Überprüfung unterliegt.

c) Verfahrenslotse zur Unterstützung (§ 10b SGB VIII neu)

Die in den Jugendämtern angesiedelten Verfahrenslotsen sollen Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und ihren Eltern an der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe begleiten und den Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Umsetzung der Inklusiven Lösung unterstützen. Dieser Schritt sieht die Übernahme der vorrangigen Zuständigkeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe auch an alle junge Menschen mit (drohenden) Behinderungen vor.

Verfahrenslotsen sollen eingesetzt werden, um junge Menschen mit Behinderungen im Hinblick auf ihre Leistungsgewährung zu unterstützen. Sie sollen auch an den Hilfeleistungskonferenzen beteiligt werden können und das gesamte Verfahren unterstützen.

SoVD-Bewertung: Wir begrüßen, dass Verfahrenslotsen für junge Menschen mit Behinderungen im gesamten Teilhabeplanverfahren beteiligt werden können. Um ihrer umfassenden Aufgabe gerecht werden zu können, ist es allerdings zwingend erforderlich, dass genügend Verfahrenslotsen in den Jugendämtern vorhanden und dass diese vor allem auch finanziell gut ausgestattet sind. Für Verfahrenslotsen müssen ausreichend Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden.

Aus Sicht des SoVD sollte das Amt des Verfahrenslotsen im Sinne der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen unbedingt bei einer unabhängigen Stelle angesiedelt sein und nicht, wie bisher vorgesehen, bei den Jugendämtern.

d) Leistungsvereinbarungsrecht

Ambulante Leistungen, wie etwa jene einer Freizeitassistenz, sollen künftig kostenfrei gestellt werden (§ 35f SGB VIII neu).

SoVD-Bewertung: Wir sehen es positiv, dass ambulante Leistungen kostenfrei sein sollen, kritisieren allerdings, dass für mobilitätsrelevante Mehraufwendungen oder Mehraufwendungen für Wohnraum diese Kostenfreistellung nicht vorgesehen ist.

Wir weisen darauf hin, dass im SGB IX festgeschrieben ist, dass für Leistungen wie die schulische Bildung, vorschulische Teilhabe, Teilhabe am Arbeitsleben kein Kostenbeitrag erhoben wird. Der Leistungskatalog ist in § 138 SGB IX aufgeführt. Dieser Leistungskatalog gilt unabhängig davon, ob die Leistungserbringung ambulant, teilstationär oder stationär erfolgt.

Eine Beitragsfreistellung für nur ambulante Leistungen stellt mithin eine Schlechterstellung zur bisherigen Rechtslage dar. Dies widerspricht dem § 108 Abs. 2 SGB VIII und wird von uns eindeutig abgelehnt.

Wir kritisieren darüber hinaus, dass ein Anspruch auf Abschluss einer Leistungsvereinbarung bei ambulanten Leistungen fehlt. Besteht ein Anspruch auf eine Teilhabeleistung, so besteht für den Anspruchsberechtigten nach § 123 ff im SGB IX ein Rechtsanspruch auf den Abschluss einer Vereinbarung, damit sichergestellt ist, dass ein Leistungserbringer für die Teilhabeleistung zur Verfügung steht. Dies gilt im SGB IX unabhängig davon, ob eine Leistung ambulant, stationär oder teilstationär erbracht wird.

§ 78a SGB VIII neu sieht hingegen nur eine Leistungsvereinbarung für stationäre und teilstationäre Leistungen vor. Dies ist eine Schlechterstellung zum bisherigen Recht und wird vom SoVD klar abgelehnt.

Der SoVD weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass auch der UN-Fachausschuss bei der 2. und 3. Staatenprüfung deutlich gemacht hat, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland eine zu hohe Kostenbeteiligung bei der Wahrnehmung ihrer Rechte für ein selbstbestimmtes Leben haben. Zuständigkeit der Sozialgerichte / keine Rechtswegspaltung.

Für Angelegenheiten, die Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderungen betreffen, soll der Rechtsweg an die Sozialgerichte eröffnet sein (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 g SGG neu). Sind also nicht nur Leistungen der Eingliederungshilfe, sondern auch Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe für Menschen mit Behinderungen Streitgegenstand, so sind für sie die Sozialgerichte zuständig.

SoVD-Bewertung: Der SoVD begrüßt die o.g. Zuständigkeit der Sozialgerichte. Menschen mit Behinderungen sind neben den Leistungen aus dem SGB VIII aber auch auf andere Leistungen angewiesen (medizinische Rehabilitation einschließlich Hilfsmittelversorgung, Pflege, weitere Leistungen der Krankenversicherung etc.). Dies ist der Hintergrund einer Teilhabeplanung, welche im SGB IX festgeschrieben ist. Um dem Anspruch eines tatsächlich inklusiven SGB VIII gerecht zu werden, muss auch in solchen Fällen klargestellt sein, dass Sozialgerichte 

alleinig zuständig sind. Dies gilt auch für das Vertragsrecht, welches entsprechend § 4 Abs. 1 SGB IX auch den Sozialgerichten zugeordnet werden muss. Hier ist eine Klarstellung erforderlich.

Leerstellen im Gesetz

Der SoVD bewertet es als positiv, dass das Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem vorliegenden Referentenentwurf einen ersten Schritt zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe gemacht hat und die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und ihren Familien verbessern möchte. Denn: Bisher ist die Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII nur für Leistungen der Eingliederungshilfe für rund 140.000 Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung zuständig. Etwa 300.000 Kinder und Jugendliche mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung sind dem Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zugewiesen.

Mit der Übernahme der Zuständigkeit für Leistungen der Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendliche mit Behinderungen durch die Kinder- und Jugendhilfe sollen Schwierigkeiten bei der Zuständigkeitsbestimmung für Leistungen der Eingliederungshilfe - etwa bei Mehrfachbehinderungen oder der Abgrenzung von seelischen und geistigen Behinderungen - endgültig überwunden werden.

Leerstellen im Gesetz beziehen sich erstens auf die Herstellung einer umfassenden Barrierefreiheit und zweitens auf eine Multiprofessionalität im Jugendamt und in den Beratungsstellen.

  1. In einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist eine grundsätzlich umfassende Barrierefreiheit der Leistungen und Angebote zu gewährleisten und herzustellen. Die dafür notwendigen finanziellen Ressourcen sind zur Verfügung zu stellen. Dabei muss es – wie u. a. auch von Art. 24 Abs. 3 UN-BRK gefordert – weiterhin spezialisierte Angebote für Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung zum Erlernen spezifischer Fähigkeiten geben.
  2. Um tatsächlich eine gute inklusive Kinder- und Jugendhilfe „unter einem Dach“ sicherzustellen, ist es unerlässlich, dass Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe zusammenwirken. Hier spielen, wie oben beschrieben, die Verfahrenslotsen als eine zentrale Ansprechperson eine entscheidende Rolle. Dringenden Handlungsbedarf sieht der SoVD bezüglich des Fachkräftemangels. Der Bedarf qualifizierter Fachkräfte wird in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe hoch sein. Nur ein multiprofessionelles Team beim öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger kann Hilfen aus einer Hand und die entsprechende Fachlichkeit sichern. Know-how muss gesichert und ggf. auch gebündelt werden: Die kommunal organisierten Jugendämter müssen, z. B. durch 

    die Bildung von Arbeitsgemeinschaften, überregionale Netzwerke aufbauen, um auf die spezifischen Bedarfslagen von jungen Menschen mit selteneren Beeinträchtigungen (z. B. Menschen mit Seh- und Höreinschränkungen) bedarfsgerecht reagieren zu können. Es ist unerlässlich, regelmäßig Schulungen für Mitarbeitende in den Jugendämtern durchzuführen, um auf die besonderen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen adäquat reagieren zu können.

Entscheidend ist letztendlich, dass für alle Vorhaben im vorliegenden Referentenentwurf ausreichend Haushaltsmittel verfügbar sind. Hinsichtlich der Verfahrenslotsen, die entscheidende Ansprechpersonen sein sollen, erfolgt keine Kostenübernahme durch den Bund. Eine Kostenbeteiligung ist zwingend geboten, um mit ausreichenden Mitteln planen zu können.

Berlin, den 2. Oktober 2024

DER VORSTAND Abteilung Sozialpolitik